Ein Mokka für Thomas, ein Telegramm aus dem Norden sowie eine Parade ohne Soldaten – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Pressemeldung der Firma EDITION digital Pekrul & Sohn GbR
5 preisgesenkte E-Books


Aller guten Dinge sind drei, heißt es: Das Günter-Görlich-Festival geht noch einmal weiter: Auch heute stammen alle Texte dieses aktuellen Newsletters von diesem Autor, einem der bekanntesten Autoren und Kulturfunktionäre des untergegangenen Landes und zwar einschließlich des aktuellen Beitrages der Rubrik Fridays for Future – traditionell immer das fünfte und letzte der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 22.07. 22 – Freitag, 29.07. 22) zu haben sind. Mehr dazu weiter unten – nach den anderen vier Görlich-Büchern. So hieß es bereits in der vergangenen Woche. Und daran hat sich in dieser Woche nichts geändert, weshalb wir (ganz aktuell energiesparenderweise) den Text noch einmal verwenden können:

In „Unbequeme Liebe“ schreibt eine Frau einen Brief, der ihr nicht leicht fällt. Aber sie kann nicht anders.

In „Die Chance des Mannes“ weckt ein überraschendes Telegramm alte Erinnerungen und sorgt zugleich für Rätsel.

In „Tom und Franziska“ scheitert die Liebe zwischen zwei jungen Leuten, von denen einer in Berlin geboren wurde, und eine irgendwo im fernen Afrika. Trotzdem ist es keine Weiß-Schwarz-Geschichte.

Ungewöhnliches geschieht in der Titelgeschichte von „Die Nacht davor“. Und wir lernen Görlich von einer anderen künstlerischen Seite kennen.

Und damit sind wir wie schon oben angekündigt wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Es geht wieder einmal um Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, die gerade in Kriegszeiten, wenn es nicht selten nur noch ums nackte Überleben geht, dicht beieinanderliegen, sehr dicht sogar – unmenschlich dicht. Und sehr leicht passiert es dann, dass sich in Kriegszeiten Hass und Gewalt, tödlicher Hass und tödliche Gewalt gegen noch Schwächere und bereits zu Friedenszeiten Bedrohte und Gefährdete richten – wie zum Beispiel vor und während des Zweiten Krieges gegen Juden oder Menschen, die man nach den perfiden Rasse-Regeln der Nazis dazu erklärte. Die Lektüre des heutigen Buches kann und soll dazu helfen, die Augen gegenüber jeglicher Neigung zu öffnen, Kriege gutzuheißen und Menschen auszugrenzen, aus welchen Gründen und wegen welcher wahnsinnigen Regeln auch immer.

Erstmals 1992 veröffentlichte Günter Görlich im SPOTTLESS-Verlag Berlin seine Erzählung „Die verfluchte Judenstraße“: Günter Görlich stellte dieser Erzählung aus den Tagen, da Breslau 1945 die letzte Phase seiner in jeder Hinsicht erbarmungslosen Verteidigung erlebte, einige Worte voran. Darin schreibt er unter anderem: „Da ich diese Zeilen zu Papier bringe, im Herbst 1992, ist in Europa Krieg, ist in Asien Krieg, in Afrika. Da ich diese Zeilen schreibe, ist die Welt erschrocken über das Niederbrennen der jüdischen Baracke im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen.“

Görlich führt den Leser in die letzten Schanzen der Festung Breslau und in eine zwischen ausgebrannten Waggons und umgestürzten Lokomotiven versteckte Kleingartenlaube, in der der Soldat Hans Sawade Stunden einer tiefen Liebe zu der Halbjüdin Eva erlebt. Eine in bündiger Sprache geschriebene bewegende Episode.

Der Autor vieler erfolgreicher Bücher wirft mit seiner Erzählung auch die Frage nach der Funktion von Literatur in unserer Zeit auf, verweist im Vorwort auf die zur alltäglichen Gewohnheit gewordenen Kriegsbilder im Fernsehen: „Rinnsale von Blut werden deutlich in Farbe abgefilmt. Menschengesichter, verzweifelt und hoffnungslos, dringen auf uns ein. Und das nicht nur von Sarajewo, sondern von zahlreichen Orten unserer Erde.

Und das stumpft ab.

Aber ein Buch, das man liest, fördert die Auseinandersetzung mit sich selbst, es weckt Emotionen. Ich glaube doch an die Möglichkeiten von Literatur.“ Hier der Anfang dieser spannenden Erzählung, die die damaligen Ereignisse sehr dicht heranholt, schmerzhaft dicht:

„1. Kapitel

Im Jahre fünfundvierzig dieses Jahrhunderts, Anfang April, wüteten Kriegsbrände in weiten Teilen Europas.

Russische Armeen rückten auf Berlin zu, Amerikaner und Engländer drangen im Westen und Norden Deutschlands vor. Der blutige Krieg näherte sich seinem Ende.

Aber weit im Rücken der Front vor Berlin war eine Stadt von den Russen fest eingeschlossen. Sie lag an der Oder und hieß Breslau. Schon seit Februar war sie eingekesselt und durch erbitterte Kämpfe arg zerstört.

Die in der Stadt waren, Soldaten, Kinder und Frauen, alte Leute, dachten angstvoll an das nahende Ende.

Sie wollten alle leben, überleben. Aber was wird sein, wenn die Russen die Stadt erobern? Vergeltung werden sie üben, Rache nehmen.

An einem frühen Morgen Anfang April hockten zwei junge deutsche Soldaten in einem Keller in der Frontlinie im Süden der Stadt.

Ihre Namen waren Hans Sawade und Herbert Sommerlatte. Gegen sechs sollte ihre Ablösung kommen. Die Nacht war ruhig gewesen. Die Russen, auf der gegenüberliegenden Straßenseite in den Kellern verschanzt, hatten keinen Schuss abgefeuert, keine Handgranate geworfen.

Herbert Sommerlatte sagte zu Hans Sawade: „Die haben was vor. Hoffentlich sind wir schon hinten, wenn’s losgeht.“

„Glaub‘ nicht, dass was losgeht“, antwortete Sawade und spähte aus der mit Sandsäcken geschützten Kellerluke in die graue Morgendämmerung.

„Ist überhaupt ruhig geworden“, sagte Sommerlatte, „in der letzten Woche ist keiner draufgegangen.“

„Halt den Kopf unten, Herbert“, warnte Sawade, „die Scharfschützen haben Langeweile.“

Ausgebrannt waren die Häuser auf der anderen Straßenseite, die Bäume davor hatten Granaten zersplittert. Einer aber war wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Bald werden die ersten zarten Blättchen an seinen Zweigen treiben. Nach einem bitterkalten Winter war ein sehr warmes Frühjahr gekommen.

Hans Sawade kannte die Straße, in der sie den Russen gegenüberlagen. Nicht weit von hier hatte seine Tante Lena gewohnt. Dort war aber schon seit Februar russisches Hinterland.

Wann hatte er Tante Lena das letzte Mal besucht? Im vergangenen Herbst, bevor er ins Wehrertüchtigungslager einrücken musste. Damals färbte sich das Laub an den Bäumen. Die Häuser in der Straße waren heil. Die Stadt war von Luftangriffen verschont geblieben. Bis hier an die Oder reichte der Treibstoff für die Bomber nicht.

Die letzten Monate hatten alles nachgeholt. Gab es überhaupt noch heile Häuser in der Stadt?

Herbert Sommerlattes Kopf mit dem Stahlhelm war nach vorn gesunken. Das Sturmgewehr zwischen den Knien, schlief er an der schmutzigen Kellerwand.

Herbert ist für das Sturmgewehr zu klein. Aber man staunt, was der Kerl wegschleppt an Handgranaten und Munition. Aber gefährlich für Herbert ist, dass er so rasch einnickt. So hat’s manchen schon erwischt. Hans Sawade konnte das nicht passieren, er war immer hellwach, wenn sie im Einsatz waren. War das die Angst? Ja, auch. Aber mit der Angst ist das so eine Sache. Andauernd Furcht haben, das geht gar nicht. Das stumpfsinnige Leben an der Front erstickt die Angst. Doch sie flammt immer wieder auf. Am schlimmsten ist, wenn sie zum Fronteinsatz ausrücken müssen aus den Quartieren in der Innenstadt, aus den tiefen Kellern einer Brauerei. Das passiert immer im Morgengrauen. In der Ferne tacken Maschinengewehre, einzelne Schüsse und Detonationen sind zu hören. Leuchtkugeln schweben am Himmel. Schwere Artilleriegeschosse heulen über die Köpfe hinweg.

Und du kannst nichts tun, nichts. Beten vielleicht. Lieber Gott, lass alles gut gehen in den nächsten Stunden. Lass mich am Leben, lieber Gott …

Hans Sawade richtete sich auf, beugte sich vor, wollte einen größeren Abschnitt der Straße überblicken. Er traute der Stille nicht.

Da entdeckte er auf der anderen Straßenseite in einem Kellerfenster den Kopf eines Russen. Der hatte keinen Stahlhelm auf. Der war ihm wohl lästig geworden, oder die Kopfhaut juckte unerträglich. Er hatte helles Haar, bot ein gutes Ziel.

Hans Sawade hob sein Sturmgewehr an. Vielleicht tat der Russe drüben dasselbe mit seiner Maschinenpistole.

Doch dann duckte sich Hans Sawade hinter dem Sandsack. Auf der anderen Seite fiel kein Schuss. Hätte ich abgedrückt, wäre es losgegangen, dachte Hans Sawade. Wer weiß, wen von uns es noch erwischt hätte kurz vor dem Abmarsch in das Hinterland. Der Kolben seines Sturmgewehrs klirrte auf den steinernen Kellerboden.

Herbert Sommerlatte fuhr hoch und packte seine Waffe.

„Was ist los?“, rief er.

„Nichts“, sagte Hans Sawade, „schlaf weiter.“ Herbert Sommerlatte blickte auf seine Uhr.

„Wann kommen die Ärsche von der Ablösung endlich“, schimpfte er, „die Brüder sind nicht von den Strohsäcken hochgekommen. Die haben gestern gesoffen, haben Weiber aufgegabelt.“

„Mensch, Herbert, deine Fantasie möchte ich haben.“

Die beiden Soldaten im Kellerloch wohnten in einer Straße dieser Stadt, in der Patschkauer, in der Eisenbahnersiedlung hinter dem Bahnhof. Ihre Väter waren Lokomotivführer. Seit Monaten wussten die Jungen nichts mehr von ihnen. Die Väter fuhren Kriegstransporte. Waffen, Vieh, Eisenerz, alles Mögliche hatten sie in den Kriegsjahren mit ihren Lokomotiven kreuz und quer durch Europa geschleppt. Die Mütter und Geschwister der beiden konnten im kalten Januar noch die Stadt verlassen, lebten in einem Dorf in den Sudeten.

Die Jungen waren in eine Volksschule gegangen. Später trennten sich ihre Wege. Hans Sawade kam auf die Mittelschule, sollte einen besseren Start ins Leben haben, hoffte seine Mutter. Vor einem Jahr hatte er die Schule mit dem mittleren Reifezeugnis verlassen, verschiedenes gemacht, war Luftwaffenhelfer gewesen. Doch eigentlich hatte er nur auf die Einberufung gewartet. Das war bei allen in seinem Alter so üblich. Herbert Sommerlatte hatte Lokomotivschlosser gelernt.

Im Januar waren Hans und Herbert siebzehn geworden, auch das hatten sie gemeinsam.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 1965 erschien im Verlag Neues Leben Berlin die Erzählung „Unbequeme Liebe“ von Günter Görlich: Im Juli damals an der Ostsee, als sie einander zum ersten Mal sahen, als der Kahn, in dem sie spätabends saßen, sich in eine bunte Schaukel zu verwandeln schien – damals begann ihre Liebe, die nun, drei Jahre danach, aufhören muss. Es fällt Ingrid nicht leicht, den Brief an Thomas zu schreiben, aber noch einmal will sie ihn nicht belügen. Nichts verachtet sie mehr als ängstliches Heucheln und träge Gewohnheit. Sie muss ihm sagen, dass es mit ihnen zu Ende ist, dass sie einen anderen Mann kennengelernt hat.

Ingrid wehrt sich gegen das neue Gefühl, und doch will sie Fred Horlander wiedersehen. Wie aufregend war die erste Begegnung mit ihm, dem jungen klugen Schuldirektor, an dessen Schule sie zu unterrichten beginnt, wie aufregend ehrlich sein Geständnis. Die Reise ans Schwarze Meer, zu der Horlander sie mitnimmt, wie ungewöhnlich und schön. Und doch kann sie ein anderes Erlebnis nicht vergessen: wie sie mit Thomas auf der Moldaubrücke stand und er davon sprach, dass er mit ihr zusammen noch viele fremde Städte kennenlernen möchte. Zunächst aber begegnen wir nicht Horlander, sondern Thomas, der in einer verzweifelten Stimmung steckt:

„1

Tagelang hatte eine glasige Sonne über der Stadt gebrütet. Seit dem frühen Nachmittag aber regnete es. Der Regen fiel auf die schmutzig-gelbe Kirchenruine, einst das Wahrzeichen dieser Stadt, wusch Kopfsteinpflaster blank, wurde aufgesogen von den Wiesen in den Parkanlagen, trommelte auf die grünspanüberzogenen Kupferdächer der alten Schlösser.

Thomas Wellm sagte: „Noch mal dasselbe!“

Der Kellner, ein älterer Mann in einer sehr weißen Jacke, schaute ihn an, als wollte er abschätzen, was es mit diesem jungen Burschen, der hier allein am Tisch saß und nun das fünfte Mal einen doppelten Wodka und ein Bier verlangte, für eine Bewandtnis habe. Ohne ein Wort hob er mit schwungvoller Bewegung die leeren Gläser vom Tisch.

Thomas saß am Fenster. Über die Tischplatte aus Marmor zogen sich feine Risse, sonderbare Figuren bildend. Eigentlich war alles so, wie man es sich in solchen Situationen vorstellt: Ein halb leeres Lokal, draußen Regen, der Held ertränkt seinen Liebeskummer im Schnaps.

Lautlos war der Kellner an den Tisch gekommen. Wieder spürte Thomas den prüfenden Blick.

„Bringen Sie mir bitte Kaffee. Nein, Mokka. Hoffentlich taugt der was?“

„Unser Mokka ist gut. Er ist stadtbekannt, junger Mann.“

Thomas dachte: Ich bin dir wohl nicht fein genug in meiner Lederjacke. Im Übrigen hängt mir deine Stadt zum Halse raus. Muffig. Überall stinkt es nach Museum …

Er starrte auf die Straße. Wie durch einen feingewebten Vorhang sah er Bäume, Häuser und vorbeifahrende Autos. Wie wäre das mit dem Zeichenstift einzufangen, der graue Regenvorhang und dahinter die weichen Umrisse der Bäume und Häuser? In einer Ausstellung hatte er einmal sehr lange vor einem Bild gestanden. „Regentag in Suchumi“. Unruhig war da die Stimmung, der Regenvorhang dichter, die Gegenstände dahinter verzerrt.

Thomas schob das volle Schnapsglas fort. Der Wodka roch wie Spiritus. Und noch vor einer Stunde war ihm der Schnaps wie ein Labsal vorgekommen. Er hätte am liebsten das Fenster aufgestoßen, um den dumpfen Schädel im Regen zu kühlen.

Blöder Satz: Das Herz ist wie eine offene Wunde. Hartnäckig haftet er im Kopf und ist doch Kitsch. Wieso Kitsch? Man kann diesen Zustand auch so beschreiben: Zwei waren fast drei Jahre zusammen, man sagt, die haben sich geliebt, haben miteinander geschlafen, es war schön und angenehm. Und nun ist alles vorbei. Man ist aber ein moderner Mensch, hat Prinzipien. Es ist eben vorbei, weil eine nicht mehr will, wahrscheinlich ist ein anderer gekommen, und mit dem will sie jetzt. Das ist, nüchtern gesehen, der Sachverhalt. Was hat das Herz damit zu tun? Wäre das Herz, dieser lebenswichtige Muskel, eine offene Wunde, müsste man schnell den Arzt aufsuchen. Sicher käme dann jede medizinische Hilfe zu spät. Aber man hört ja heutzutage von Herzoperationen der unwahrscheinlichsten Art … Thomas trank nun doch den Wodka.

Von einer Säule herab machte sich ein Lautsprecher bemerkbar.

Ein Dixieland übertönte das Klappern der Kaffeelöffel und das Lachen dreier junger Frauen mit frischfrisierten Köpfen.

Was würde passieren, wenn man eine der lieben Damen zum Tanz aufforderte? Der in der weißen Jacke würde sagen: Hab ich nicht recht gehabt? Wie dieser Kerl die Sachen hinterkippte! Kein Wunder, dass er verrückt spielt. Und ein Polizist tritt ein und stellt die Ordnung wieder her. Wenn nötig, mit Gewalt.

Was ist los mit dir? dachte Thomas. Hast noch nie krakeelt. Nicht mal bei der Lehrabschlussfeier. Dort hättest du dem Lehrmeister Robert Kallweit, der sinnlos trank und an der Theke Soldatenlieder grölte, eins aufs Maul geben müssen. Kallweit, schweißüberströmt, sang: Deutsche Panzer im Sonnenbrand, stehen im Kampf gegen Engeland. – Er hatte nur dessen Hand von seiner Schulter abgeschüttelt.

Der Kellner brachte den Mokka. Thomas griff nach der winzigen Tasse, die Hand zitterte, und er ärgerte sich darüber.

Leise sagte der Kellner: „Wenn Sie ein Motorrad hier haben, fahren Sie lieber nicht.“

Thomas blickte in besorgte Augen.

„Machen Sie sich bitte meinetwegen keine Gedanken“, entgegnete er.

Allmählich hatte sich das Lokal geleert. Auch die drei Frauen waren gegangen. Aus dem Lautsprecher ertönte eine weibliche Stimme, die über ein Buch sprach, das im Allgemeinen gut sei, aber im Besonderen …

Thomas sah auf die Uhr. Schon kurz vor sieben.“

Ebenfalls im Verlag Neues Leben Berlin erschien 1982 „Die Chance des Mannes“ von Günter Görlich: Ein Telegramm liegt auf dem Tisch. Der Ratsvorsitzende aus einer Kreisstadt, Wolfgang Weiß, bittet den Zeithistoriker Klaus Karras in Berlin um eine Unterredung. Nichts Ungewöhnliches, so scheint es, aber Karras und Weiß haben sich seit fast zwanzig Jahren aus den Augen verloren. Das Telegramm gibt Karras Rätsel auf und weckt Erinnerungen.

Als Weiß dann vor ihm sitzt und ihm bekennt, dass seine Frau Monika ihn plötzlich ohne klare Gründe verlassen hat, fühlt Karras sich wieder, obwohl er sich innerlich dagegen wehrt, einbezogen in das Schicksal dieser beiden Menschen, denen er einmal freundschaftlich verbunden war. Und er verspricht Weiß, ihm zu helfen. Wie die Hilfe aussehen könnte, ist Karras noch nicht klar. Welchen Problemen wird er begegnen? Wie steht es um die Frau, die Haus und Familie aufgab? Wie steht es um den Mann? Hier zunächst das erwähnte Telegramm, dessen Hintergründe man aber nur verstehen kann, wenn man weiterliest, ja, wenn man die ganze Geschichte kennt:

„I.

Muss Dich unbedingt sprechen. Erfolgt keine Absage, bin ich morgen, Donnerstag, den 12. 2., um 15.00 Uhr bei Dir im Institut.

Gruß Wolfgang Weiß

Das Telegramm gab mir Rätsel auf. Es war gestern am späten Abend in der Kreisstadt im Norden aufgegeben worden, in der, wie ich mich erinnerte, Weiß arbeitete und lebte. Ich hatte Wolfgang Weiß lange nicht gesehen. Unsere letzte Begegnung lag fünf oder sechs Jahre zurück, in der Mitte der Siebzigerjahre.

Damals arbeitete ich noch an der Universität und wollte an einem Mittag vom Hauptgebäude zur Kommode rüber, um irgendwelche Unterlagen einzusehen. Meine Zeit war knapp. Ich hatte keinen Blick für das zarte Hellgrün der Lindenblätter in der Maisonne, auch nicht für das lebhafte Treiben auf der Straße, ich war in Gedanken bei meiner Vorlesung. Da sagte jemand: „Schau an, der Genosse Karras. Wie immer im Trab.“

Ich erkannte Weiß, das heißt, ich brauchte ein paar Sekunden, um mir klar zu werden, dass der Mann vor mir Wolfgang Weiß war.

Er hatte sich verändert.

Mir schien er größer zu sein, das war natürlich barer Unsinn, aber auf jeden Fall breiter und imposanter, in seinem gut sitzenden hellen Anzug, trotz der Wärme mit geschlossenem Hemdkragen und korrekt gebundener Krawatte. Nur sein festes blondes Haar, niemals recht zu bändigen, erinnerte an den früheren Wolfgang Weiß.

„Na, das ist schon eine Überraschung“, sagte ich, „und dann noch vor der Uni. Vor Jahren hast du ja auch immer hier gewartet. Aber nicht auf mich.“

„Ja, vor vielen Jahren“, sagte Weiß.

Wir schüttelten uns die Hände, und da ich es wirklich eilig hatte, schlug ich ein Treffen am Nachmittag im Operncafé vor.

Weiß bedauerte, er habe leider keine Zeit, müsse zurück. Am Abend habe er auf einer Veranstaltung in seiner Kreisstadt eine Rede zu halten.

Und ich erfuhr, er war vor einigen Monaten zum Ratsvorsitzenden dieses Kreises ernannt worden.

Ich spürte, für ihn war es noch nicht selbstverständlich, diese Funktion im Zusammenhang mit seiner Person zu nennen.

Ich gratulierte ihm herzlich. Weiß hatte einen Aufstieg hinter sich. Der hatte sich in einem Jahrzehnt vollzogen. Mitte der Sechzigerjahre war Weiß aus Berlin weggegangen und hatte dort im Norden beim Rat des Kreises zu arbeiten begonnen.

„Wie geht’s deiner Frau, der Monka?“, fragte ich, „und was macht euer Junge?“

„Der Monka?“, sagte Weiß sinnend, die Zärtlichkeitsform für Monika, die er vor Jahren erfunden hatte, schien ihm nicht mehr so recht vertraut zu sein. „Ja, Monika geht’s den Umständen entsprechend. Dem Jungen auch. Manchmal reden wir von dir und den alten Zeiten. Schade, die Entfernung …“

Für mich hatte es kaum einen Anlass gegeben, an die beiden Weiß zu denken. Durch die Zeit und die räumliche Entfernung waren die Erinnerungen verblasst.

Als wir uns an jenem Maitag vor dem Eingang der Universität verabschiedeten, nahmen wir uns vor zu schreiben, wenigstens mal anzurufen, uns vielleicht sogar gegenseitig zu besuchen, und wir wussten wohl schon, dass es bei diesen freundlichen Versprechungen bleiben würde.

Und jetzt, Jahre später, dieses Telegramm.

Ich blickte in meinen Terminkalender. Am Nachmittag des Zwölften war ein Gespräch mit einem Mitarbeiter vorgesehen. Keine dringliche Angelegenheit, ich konnte diese Sache ohne Nachteil für den Kollegen verschieben.

Also war ich bereit für Wolfgang Weiß. Ich vermerkte den Termin im Kalender und bat meine Sekretärin, mich für den morgigen Nachmittag vor unangemeldeten Besuchern abzuschirmen.

Das Telegramm versetzte mich in eine gewisse Spannung.“

Erstmals 1993 veröffentlichte Günter Görlich im SPOTTLESS-Verlag Berlin „Tom und Franziska“: Das ist die Geschichte einer Begegnung, von der sich alle Beteiligten viel erhoffen, die aber am Ende an Vorbehalten scheitert. Nicht irgendwelchen, sondern solchen, die gerade in unserer Zeit täglich zunehmen, genährt aus bösen Traditionen und bitterer Gegenwart.

Tom und Franziska, zwei junge Menschen, geboren in Berlin und irgendwo im fernen Afrika, spüren zwischen sich keine Vorbehalte, müssen aber erleben, dass ihre schlichte junge Liebe an den überholten Ansichten Älterer scheitert. Ihr Abschied ist verheißungsvoll – er hat nichts Endgültiges an sich.

Der Autor bleibt sich auch mit diesem Buch treu: Er betrachtet es als wichtige Aufgabe des Schriftstellers, einzugreifen, mit dem Mittel der Literatur auf Meinungen und Ansichten einzuwirken und dabei auch den Schaden anzudeuten, den überholtes Denken anzurichten vermag. Der Anfang des Buches beginnt mit einer Überraschung für einen Jungen, auf die der sicher gern verzichtet hätte:

„1. KAPITEL

An einem sonnigen Samstagmittag kommt ein Junge aus der Schule. Er ist froh, dass er die Woche über die Runden gebracht hat. In Gedanken ist er schon mit seinem Freund Marko im Kino Babylon, wo ein spannender Western läuft.

An der Wohnungstür empfängt ihn der Vater und sagt: „Thomas, heute Nachmittag bekommen wir Besuch. Räum dein Zimmer auf und zieh dich um.“

Das ist eine Überraschung für Thomas Ammon an diesem letzten Samstag im April. Schon als ihn der Vater mit Thomas ansprach, war dem Jungen klar, etwas Besonderes stand in Aussicht. Vater rief ihn gewöhnlich Tom, manchmal auch Tommy.

Mutter hatte ihn nur Tommy genannt. Doch Mutter konnte nicht mehr zärtlich zu ihm sein – sie lebte nicht mehr.

Nach dieser kurzen Mitteilung verschwand Vater wieder in der Küche.

Der Junge fragte: „Wer kommt denn?“

„Was meinst du?“, rief Vater.

Thomas betrat nun auch die Küche und sah, der Vater bereitete Salate vor. Zwiebeln und verschiedenes Grünzeug lagen auf dem Tisch, Öl, Gewürze und Schüsseln standen bereit.

„Wer kommt denn eigentlich?“, fragte der Junge.

„Kennst du nicht.“

„Wirklich nicht?“

„Nein. Ich will sie dir ja vorstellen.“

„Sind’s viele?“

„Mutter und Tochter.“

„Mutter und Tochter? Na so was.“

„Auch wenn du was vorhast“, sagte der Vater und sah Thomas prüfend an, „heute musst du darauf verzichten.“

„Ich wollte mit Marko ins Kino“, sagte der Junge.

„Thomas, ich denke, wir haben uns verstanden“, sagte der Vater und wandte sich wieder seinen Salaten zu.

Da wusste der Junge, es war nichts zu machen, er musste diesen Besuch, weiblichen auch noch, über sich ergehen lassen. Soweit kannte er seinen Vater Rainer Ammon, schließlich waren sie seit Mutters Tod aufeinander angewiesen. Aber er wird gegenüber dieser Frau und ihrer Tochter kühl bleiben, kühl bis ins Herz, wie es heißt. Er wird nur reden, wenn er gefragt wird, und auch dann nur das Nötigste. Das nahm sich Thomas fest vor, als er die Küche verließ und in sein Zimmer ging.

Die Ammons bewohnten eine geräumige Dreizimmerwohnung in fünften Stock eines Häuserblocks, der hinter der Allee lag.

Thomas überblickte sein Zimmer, erinnerte sich an den Wunsch des Vaters aufzuräumen, alles für den Besuch! Was hatte der in seiner Bude zu suchen? Der sollte im Wohnzimmer bleiben, Kaffee trinken, Salate essen und Würstchen oder wer weiß, was Vater noch zusammenzauberte für diese Mutter und ihre Tochter.

Den Tisch muss ich sowieso aufräumen, überlegte er, das hat nicht das Geringste mit diesem Besuch zu tun. Die Fußballtöppen sind auf Hochglanz zu bringen.

Gewöhnlich erledigt Thomas das am Sonntagvormittag. Er kann die Töppen auch schon heute putzen, dann hat er morgen Zeit, Mathe zu machen. Und das ist nötig, schaut er sich die Zensuren der letzten Wochen an.

Auf dem Arbeitstisch stand das Foto der Mutter, der Grit Ammon, halbverdeckt durch einen Schuhkarton, in dem Thomas Kassetten aufbewahrte. Er nahm den Karton vom Tisch, schob ihn unter die Couch, legte die Fußballzeitungen der letzten Wochen zusammen.

Nichts soll von dem Foto ablenken. Wer zur Tür hereinkommt, soll sofort in die lachenden Augen seiner Mutter schauen.

Thomas erinnerte sich an ein anderes Aussehen der Mutter, eingefallen die Wangen und schütter das Haar. So hatte er sie das letzte Mal gesehen an einem kühlen Märzsonntag in einem weißen Krankenbett. Wenige Abende später kam Vater aus dem Krankenhaus und sagte: „Mama lebt nicht mehr.“ Seitdem steht das Foto auf Thomas‘ Tisch. In der ersten schlimmen Zeit konnte es die Erinnerung an die Mutter im Krankenbett nicht verdrängen.

Das Kranksein begann für Grit Ammon viele Monate davor. Noch ahnte niemand etwas davon, ein freudiges Ereignis stand bevor. Thomas sollte einen Bruder bekommen! Da war Thomas elf Jahre alt. Aus einem Gespräch der Eltern mit den Großeltern hörte der Junge heraus, dass es eigentlich zu spät sei für einen Nachkömmling.

Doch Mutter sagte. „Ich freue mich darauf.“

Thomas hatte keine rechte Vorstellung von dem noch ungeborenen Wesen. Er würde eben einen Bruder haben, nun gut. Er hörte von Mutters Beschwerden, Kreuzschmerzen vor allem, die der späten Schwangerschaft zugeschrieben wurden. Doch dann musste Mutter plötzlich ins Krankenhaus, das Kind wurde ihr abgenommen, musste ihr abgenommen werden, um, wie Vater sagte, ihr Leben zu retten.

Doch das wuchernde Geschwür ließ sich nicht aufhalten. Und es kam der Abend, da Vater den schrecklichen Satz sagte, den Thomas nie vergessen wird, an dem er seinen Vater zum ersten Mal weinen sah.

Thomas rückte das Foto in die Mitte des Tisches, fuhr mit dem Taschentuch über die Glasplatte. Sollte der Besuch in sein Zimmer vordringen, konnte er das Foto nicht übersehen. Später schaute Vater ins Zimmer und meinte: „Sieht schon anders aus.“

Auf dem Treppenflur putzte Thomas die Fußballtöppen, dachte an den Film, den er verpassen würde, und ärgerte sich erneut über den Besuch. Er grollte dem Vater, der ihn zwang, mit wildfremden Leute zusammen zu sein. Eigentlich war es ganz gegen Vaters Art, die Samstagnachmittage seines Sohnes zu verpfuschen.

Bevor der Besuch kam, musste Thomas noch sein Hemd wechseln. Er hatte sich eine saubere Hose aus dem Schrank geholt, doch von dem Hemd mit der Reißverschlusstasche auf der linken Brustseite wollte er sich nicht trennen.

„Hab ich heute früh erst angezogen“, protestierte er.

„Du bist herumgetobt“, widersprach Vater.

„Herumtoben? Wir doch nicht mehr.“

„Red nicht, Tom. Du ziehst ein frisches Hemd an“, beharrte Vater.

Thomas sah das alles nicht ein, doch was half‘s. Überhaupt verhielt sich Vater ganz schön merkwürdig. Sonst war er die Ruhe selbst. Heute aber lief er von der Küche ins Wohnzimmer, warf einen Blick ins Bad, wirkte wie ein Tiger vor dem Sprung.

Dabei war alles in Ordnung. Im Bad hingen frische Handtücher für die Gäste, und das Erstaunlichste, zwei neue Zahngläser standen dort. Blieb der Besuch etwa über Nacht?

Der runde Tisch im Wohnzimmer war für vier Personen gedeckt, Blumen leuchteten in einer Vase. In der Küche stand die Kaffeemaschine bereit und auch Kuchen.

Das Überraschendste war Vaters Kleidung. Statt der Cordhose trug er eine graue Stoffhose, dazu ein hellblaues Hemd und einen Schlips. Thomas hätte die Tage an einer Hand zählen können, an denen er seinen Vater mit Schlips gesehen hatte. Bei der Schlipsauswahl wurde er sogar zurate gezogen. Thomas hatte keine Ahnung, was farblich stimmen sollte, der Schlips war rot und blau und sah nach seiner Meinung gut aus.

Und doch band sich Vater dann einen anderen um.

Als es läutete, schaute Vater auf die Armbanduhr und nickte.

„Das sind sie“, sagte er, „pünktlich auf die Minute.“

Thomas überlegte, wie man auf die Minute pünktlich sein konnte. Ihm war das noch nie gelungen, entweder kam er zu früh oder zu spät.

Vater drückte die Taste der Sprechanlage und fragte: „Ja?“

Komisch, dieses aufgeregte Ja, dachte Thomas, er weiß doch, wer dort unten steht.

Eine Frauenstimme sagte: „ Wir wollen zu Ammons. Sind wir richtig?“

„Ihr seid sehr richtig. Vierter Stock. Fahrstuhl ist nicht.“ Thomas hörte leises Lachen, dann das Schnurren des Türöffners.

„So, sie sind da“, sagte Vater und öffnete die Tür.

„Räum die Fußballschuhe weg.“

Sie standen sorgfältig geputzt auf dem Abtreter.

„Die stehen doch immer hier am Wochenende“, sagte Thomas.

„Na, dann lass sie dort.“

Vater stand groß und breit in der Tür, Thomas hatte Mühe vorbeizuschauen. Es war, als hielte Vater den Atem an vor Aufregung.“ Verständlicherweise übrigens, wie man weniger Augenblicke/Zeilen weiter sehen wird.

Zwei Jahre später erschien wiederum im SPOTTLESS- Verlag Berlin „Die Nacht davor“: Die Titelgeschichte ist die ungewöhnliche Geschichte des Franz Krug. Einst für die Paraden in der Karl-Marx-Allee verantwortlich, entschließt er sich am Abend vor dem früher festlichen Tag noch einmal seine Uniform anzuziehen und den gewohnten Inspektionsweg abzugehen. Eine Geschichte, die amüsiert, nachdenklich stimmt und auch tragische Züge hat. In „Was wäre wenn …“ denkt der Schriftsteller G. darüber nach, wie sich sein Leben wohl vollzogen hätte, wenn er 1945 aus der Kriegsgefangenschaft kommend, nicht nach Berlin sondern nach Schleswig-Holstein geraten wäre und in „Eine Insel aus Träumen geboren ist Hawaii“ fabuliert ein Datschenbesitzer, der den Besuch des Alteigentümers erwartet. „Nachdenken über Anna Seghers“ ist ein bewegendes Plädoyer in der von Anklagen erfüllten Gegenwart. Schließlich lernt man Görlich auch noch als Dramatiker kennen, der für eine Berliner Seniorenschauspielgruppe wieder ein Stück geschrieben hatte. Schauplatz: Die Eckkneipe „Zur deutschen Eintracht“ im Prenzlauer Berg. Aber hier zunächst der Beginn der Erzählung über die Nacht vor der Parade ohne Soldaten:

„DIE NACHT DAVOR

Franz Krug hatte sich am Abend über die Frau geärgert, wie so oft in der letzten Zeit.

Sie hatte sich nach dem Abendessen den Mantel übergezogen und gesagt, dass sie zur Tochter fahre, die kleine Kristina sei wieder mal krank, und Constanze käme ja erst um Mitternacht nach Hause.

Er ärgerte sich, weil seine Frau gerade heute zur Tochter gehen musste und ihn allein ließ.

Er wusste, dass es für Constanze keinen Ausweg gab. Wurde sie als Dolmetscherin gerufen, hatte sie zu kommen. Konnte ja froh sein, dass sie noch genügend Aufträge bekam. Sie beherrschte Russisch und Bulgarisch und war auf Handelsfragen spezialisiert. Ja, wenn ein Mann da wäre. Da war mal einer gewesen, doch das lag schon eine Weile zurück.

Und seine Frau hatte ja auch Zeit, viel Zeit, und fährt gern zu Kristina.

Franz Krug hatte aber seine Verärgerung nicht gezeigt. Er ließ sich seinen Groll nie anmerken. Wenn Maria zum Beispiel beim Friseur eine Menge Geld ließ. Nützt ja doch nicht viel, dachte er dann immer, ihr Alter lässt sich nicht wegfrisieren.

Als sie schon im Mantel in der Tür stand, hatte er gesagt: „Es ist ziemlich kühl draußen. Aber morgen wird ein schöner Tag. An diesem Tag war fast immer schönes Wetter.“

„Anfang Oktober ist meistens schönes Wetter, um die jüdischen Feiertage herum“, hatte Maria hinzugefügt.

Sie ging und in ihm war erneut der Ärger hochgekommen. Jüdische Feiertage. Er hat an einen anderen Feiertag gedacht. Das war der Tag im Jahr, an dem in der Allee die Parade stattfand. Und nun schon das dritte Mal nicht mehr. Franz Krug war an vielen Paraden beteiligt gewesen. Seine Frau aber dachte an jüdische Feiertage.

Franz Krug schaltete den Fernseher ein, suchte einen Sender, auf dem keine Serie lief. Aber es flimmerten nur Serien über den Bildschirm oder Nachrichten. Eine Weile schaute er sich Nachrichten an. Er hielt nicht durch, die Sache langweilte ihn, er hatte ja schon am Mittag die Nachrichten gesehen.

Er blätterte in einer Fußballillustrierten und hin und wieder ging ihm die Bemerkung seiner Frau durch den Kopf, über das schöne Wetter Anfang Oktober und die jüdischen Feiertage.

Vor zwei Jahren Anfang Oktober war am Reichstag eine schwarz-rot-goldene Fahne hochgezogen worden. Franz Krug verfolgte am Fernseher diesen Vorgang, ertrug ihn, bis die Hymne erklang. Als Kind und junger Mensch hatte er diese Melodie oft gesungen.

Franz Krug holte sich ein Bier und die Flasche Korn aus dem Kühlschrank und begann zu trinken.

Er trank schnell, wollte rasch die Wärme spüren, die sich vom Magen ausbreitet und die unerträgliche Spannung löst. Die verschwommene Wolke, die ihn bald einhüllte, brachte aber keine Müdigkeit und machte ihn nicht gleichgültig. Und er trank weiter den hellen Korn und das dunkle Bier.

Später drehte er die leere Kornflasche in der Hand, kippte die Neige ins Glas, das er dann aber umwarf.

Franz Krug ging ins Schlafzimmer und holte die Uniform aus dem Kleiderschrank. Er befreite sie vom Plasteüberzug und hängte sie an den Schrank.

Seine Uniform, die letzte, die er trug, bis sie ihn entließen. Die geflochtenen Schulterstücke glänzten, die Ordensschnalle hatte drei Reihen. Er strich behutsam über die Schnalle. Das ist mein Leben, dachte er. Ja, das ist mein Leben. Zum Teufel, das nimmt mir keiner weg.

Er befühlte den Stoff des Uniformrockes. Kein schlechter Stoff, wirklich nicht.

An ein Erlebnis im vergangenen Jahr erinnerte er sich. Seine Frau hatte ihn überredet, mit ihr zum Brandenburger Tor zu gehen. Sie kannte ja das Tor nur aus der Ferne, dahinter lagen der Reichstag und der weite Tiergarten.

Und sie kamen an den Ständen der Händler vorbei, die mit flinken Augen die Neugierigen aus aller Herren Länder taxierten. Sie priesen Uniformen an, russische und welche aus der nicht mehr bestehenden deutschen Armee, Dienstmützen, Stahlhelme, Feldstecher, Abzeichen und Orden. An einem Stand hatte ein fahlblonder Bursche eine besondere Attraktion aufgebaut, eine Paradeuniform mit Ehrendolch und Ordensschnalle.

Franz Krug blieb stehen, starrte den Händler an, der zunächst lächelte, in dem älteren Herrn einen Käufer vermutete, dann aber unruhig wurde.

Maria hatte ihren Mann von diesem Stand weggezogen.

„Ich könnte dem in seine dreckige Fresse hauen“, sagte Franz Krug.

„Warum? Er ist doch nur ein Händler“, hatte Maria geantwortet.

Er hatte sie angeschaut und den Kopf geschüttelt.

Und dann sagte Marie noch: „Was mag die Uniform so bringen?“

Da war Franz Krug losgelaufen, wollte aus dem Dunstkreis dieses wahnsinnigen Marktes heraus. Und er hatte sich geschworen, nie mehr hierher zu kommen. Nie mehr.“

Es ist tatsächlich eine ungewöhnliche Geschichte, in der sich komische und tragische Elemente miteinander mischen. Und es ist eine Geschichte, in welcher der Schriftsteller und Kulturfunktionär (und ZK-Mitglied) Bilanz zieht über ein Leben und über die Kämpfe, über die Siege und über die Niederlagen einer Generation, deren Angehörige glaubten, das Richtige getan zu haben – die große Niederlage am Ende eines sich als fortschrittlich verstehenden Staates eingeschlossen.

Dennoch viel Vergnügen auch beim Lesen dieser Geschichte und zugleich viel Nachdenklichkeit, weiter einen schönen und vielleicht nicht immer ganz so heißen Juli-Sommer, bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

Ach, und auch nächste Woche gibt es noch mal eine große Portion Günter Görlich …



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